Auszug Offener Brief Prof. Arlinghaus schrieb:
Empfinden Fische Schmerzen?
Von 45 Minuten Film wurde ein kleiner Teil auf die eigentliche Erörterung der Frage verwendet, ob Fische Schmerzen empfinden oder nicht. Die Argumente der Pro-Fischschmerz-Wissenschaftlerfraktion wurden von Prof. Dr. Victoria Braithwaite vertreten.
Ich kam im Film vergleichsweise kurz als Vertreter der Schmerzskeptiker zu Wort. Nach anfänglichem Zögern habe ich mich mit Freude mit Autor Carsten Rau zum Interview getroffen, weil mir zugesagt wurde, die Schmerzdebatte vollumfänglich aufzuarbeiten. Das versprach eine spannende Dokumentation zu werden, zu der ich mein Fachwissen gerne beitragen wollte. Rau lagen nach unserem langen Gespräch alle Gegenargumente zur Position von Braithwaite im O-Ton vor, die durch begleitende Kommunikation im Nachgang des Treffens und durch die sich anschließende Publikation von Rose et al. (im Druck) weiter präzisiert wurden.
Reduziert wurden unsere gut begründeten Einwände im Film auf die fehlende Großhirnrinde (Neokortex) bei Fischen, die bei Menschen für Bewusstsein und damit für das mental konstruierte Schmerzerleben verantwortlich ist. Zwar werden auch „andere Gründe“, die gegen das Schmerzerlebnis bei Fischen sprechen, erwähnt, welche diese aber sind, wird nicht weiter ausgeführt. Diese Verkürzung ließ viele Fragen offen.
Rau sieht das nicht so.
Er habe meine Einwände gegen das Schmerzempfinden von Fischen „im Wesenskern“ abgebildet. Mit diesem Argument wurde auch meine schriftlich mitgeteilte Bitte, alle wesentlichen Gegenargumente gebührend zu würdigen oder ansonsten auf die Nutzung meiner Interviewpassage zu verzichten, übergangen. Überzeugend bei der Anti-Schmerzdiskussion sind aber vor allem die nicht näher ausgeführten Gründe, z. B. dass Knochenfische nur eine geringe Zahl von C-Schadensrezeptoren (Nozizeptoren) haben, Fische kaum auf Schmerzmittel reagieren, und alle Daten publizierter „Schmerzstudien“ bei Fischen vollständig mit unbewusster Nozizeption erklärlich sind (Rose et al. im Druck).
Bisher ist die Differenzierung zwischen zwei wesentlichen miteinander konkurrierenden Hypothesen – unbewusste Nozizeption oder bewusster Schmerz – bei Fischen nicht gelungen. Beide Vorgänge können sich in komplexen Verhaltensänderungen und Vermeidungsreaktionen manifestieren, die für den naiven Beobachter wie Schmerz oder Schmerzvermeidung aussehen. In diesem Zusammenhang weist Braithwaite im Film und an anderer Stelle (Braithwaite 2010) darauf hin, dass Fische zu komplexen kognitiven Leistungen in der Lage sind und dass sie keineswegs rein instinktgesteuert agieren. Das ist für den Verhaltenforscher ein altbekanntes und für die nichtinformierte Öffentlichkeit ein interessantes Ergebnis.
Zur Klärung der Schmerzfrage, und hier insbesondere zur Differenzierung zwischen Nozizeption und Schmerz, trägt diese Information nichts bei. Nur weil ein Organismus zu komplexen Verhaltenweisen fähig ist, folgt daraus mitnichten, dass er in der Lage ist, psychisch Schmerz zu konstruieren oder gar zu leiden. Diese Gefühlszustände verlangen ein hochentwickeltes Bewusstsein und die Fähigkeit zur Introspektion. Darüber wissen wir bei Fischen nichts. Trotz anderslautenden Behauptungen und rhetorischen Manövern bleibt es dabei, dass alle vorliegenden Daten zum vermeintlichen Fischschmerz sowohl mit unbewusster Nozizeption als auch mit bewussten Schmerz erklärlich sein können (Rose et al. im Druck). An dieser wesentlichen Erkenntnis ändert sich auch nichts, wenn Tierphilosophen wie der Schweizer Prof. Dr. Markus Wild die Schmerzdefinition bei Fischen zu verwässern versuchen (vgl. Füssler 2013).
All dies interessierte Rau & Wendler sowie die NDR-Redakteure nicht, oder es passte nicht ins Bild. Durch die Verkürzung auf das Neokortexargument wurde im Film stattdessen geschickt eine verbale Erwiderung Braithwaites, nach der bei Vögeln und Fischen neuroanatomisch und –physiologisch alles anders als beim Menschen sei, vorbereitet. Das ist ein Totschlagargument. Die Behauptung, dass bei Fischen möglicherweise andere Hirnregionen die Funktion des Neokortex beim Menschen übernommen haben, geht leicht von den Lippen.
Als Naturwissenschaftler hingegen kann man sich mit Vermutungen nicht zufrieden geben. Richtig ist, dass es nicht die geringsten Hinweise für ein mit dem Menschen vergleichbares emotionales Leben bei Fischen gibt. Selbst beim Menschen sind bezüglich der Entstehung des Bewusstseins noch viele Fragen offen (Dawkins 2012).
Wenn also selbst beim gut untersuchten Menschen nicht geklärt ist, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht, sollte man sehr vorsichtig sein, entsprechende hochentwickelte Funktionen, die für ein Schmerzerlebnis unbedingt nötig sind, bei Fischen zu unterstellen. Mit Glauben und Vermutungen lässt sich in der Schmerzfrage bei Fischen nicht überzeugend argumentieren.
In diesem Zusammenhang ist auch das beliebte „Maulreiben“-Argument, das im Film von Braithwaite als Hinweis für die verhaltensbasierte Schmerzlinderung bei Fischen nach Injektion von vermeintlichen Schmerzreizen (Bienengift, Essigsäure) erwähnt wird (Sneddon et al. 2003), problematisch. Dieses kuriose Verhalten wird nicht nur unangemessen aus menschlicher Perspektive interpretiert, was sich insbesondere bei den evolutionsgeschichtlich und hirnanatomisch von uns Menschen weit entfernten Fischen verbietet, sondern war auch in mehreren Folgestudien in anderen Laboren nicht replizierbar (Rose et al. im Druck).
Auch in der viel zitierten Studie von Sneddon et al. (2003) an Regenbogenforellen, für die Braithwaite als Koautorin mitverantwortlich zeichnete, trat dieses Verhalten nur in statistisch nicht vom Zufall unterscheidbaren Einzelfällen auf. Warum einzelne Tiere dieses sonderbare Verhalten zeigten, ist ungeklärt (Rose et al. im Druck).
Diese ausgewählten Beispiele zeigen, wie vielschichtig und interessant die Schmerzkontroverse ist. Sie umfassend aufzuarbeiten, hätte aus meiner Sicht genug Stoff für einen ganzen Film hergegeben. Es ist schade, dass diese Chance vertan wurde.
Fischschmerz als Mittel zum Zweck
Wenn man genau hinschaut, ist das Schmerzthema für Rau & Wendler vor allem Mittel zum Zweck. Die porträtierten Angler und ihr Handeln werden durch die Offenhaltung der Schmerzfrage überzeugender kriminalisiert, beim Zuschauer soll wegen der offensichtlichen Tierquälerei an Fischen und der fehlenden Empathie einiger Protagonisten ein Gefühl des Ekels aufkommen. Dazu bedarf es des vermeintlichen Schmerzes auf Seiten des Fisches und einer unmoralischen Intention des angelnden Akteurs.
Rau & Wendler inszenieren beides ausgezeichnet, einige Filmsequenzen sind emotional sehr schwer zu ertragen. Für die sonstigen Schlussfolgerungen des Films ist die Klärung der Schmerzfrage irrelevant. Jedenfalls soll Raus Sohn wegen der Unsicherheit bezüglich des Fischschmerzes die Fische künftig so behandeln, als empfänden sie Schmerz. Das klingt nett und bedient den gesunden Menschenverstand. Wie wäre die Schlussfolgerung wohl ausgefallen, wenn man davon ausgegangen wäre, dass Fische keine Schmerzen empfinden?
Wäre dann das Angeln auf Weißfische unter Catch & Release Bedingungen möglich gewesen, auf das Rau jetzt nach Selbstauskunft auf der NDR Webseite lieber verzichtet, weil er die Fische nicht verwerten will oder kann?
Oder könnte man dann Fische an der Luft ohne Betäubung ersticken lassen?
Kaum jemand, schon gar kein verantwortungsbewusster Angler, wird diese Schlussfolgerung unterstützen. Anstatt über Fischschmerz zu spekulieren, empfehlen Fischschmerzskeptiker einen pragmatischen Zugang zum Schutz des Fischwohls, der sich an objektiven Kriterien wie Stress, Gesundheit und Wachstumseinbußen orientiert und dazu aufruft, diese negativen Auswirkungen wann immer möglich zu minimieren (Rose 2007; Arlinghaus et al. 2009a).
Fische erfahren während des Fang- und Handlingvorgangs zweifellos Stress und durch den Haken eine Verletzung. Jeder verantwortungsbewusster Angler – und das ist die Mehrheit der Angler – möchte diese Einflüsse durch angemessene Gerätewahl und behutsames Handling vermeiden, unabhängig davon, ob Fische Schmerzen empfinden oder nicht (Arlinghaus et al. 2009a).
So ist das auch im Internationalen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Angelfischerei vorgesehen (EIFAC 2008, FAO 2012). Es ist wichtig zu bemerken, dass der pragmatische Zugang zum Tierschutz deutlich umfassender ist als der schmerzzentrierte, weil alle vermeidbaren Einflüsse auf den Fisch minimiert werden sollen, nicht nur die, die vielleicht schmerzhaft sind.